Ich sitze im Tram und schwelge in meinen Gedanken, die üppig gefüllten und beleuchteten Schaufenster verschwimmen vor meinen Augen und werden zu einen Einheitsbrei. «Paradeplatz» lese ich auf dem Tram-Stationsschild. Ich schaue den ein- und aussteigenden Menschen nach, bleibe an einem der vielen in schwarz gekleideten Rücken hängen und folge ihm visuell über die Tramgleise bis zum grösseren Warteplatz in der Mitte. Etwas links von meinem Ausgangspunkt aus, befindet sich die Heilsarmee und singt Weihnachtslieder. Ich höre anteilslos zu und lese auf ihrem Spendentopf einen Satz, welchen mich wachrüttelt: «Weihnachten heisst, Gott wird Mensch.»
Ich stutze und dann fällt mir wieder ein, ah ja klar, Jesus war ja eigentlich geboren. Ich habe mich gerade selber erwischt, dass ich das komplett ausgeblendet habe – so denn Ursprung des Weihnachtsfestes. Das Tram setzt sich wieder in Bewegung und ich fokussiere mich wieder mehr auf das Innenleben meines Transportmittels. Ich sehe in die gestressten oder gar genervten Gesichter, da es eindeutig zu wenig Sitzmöglichkeiten hat und die Menschen so gedrängt stehen, dass heute jeder eine grosse Portion Körpernähe abbekommt, gewünscht oder nicht. Ich schmunzle und beobachte das Geschehen. Das Ehepaar vor mir, diskutiert, nein eigentlich streitet darüber, warum sie jetzt schon wieder so spät in all der Menschenmasse einkaufen gehen müssen. Der Inder neben mir redet laut und für mich aggressiv klingend in sein Telefon hinein und der Opa schräg rechts vor mir, hat die Mundwinkel nach unten gezogen, als gäbe es kein Morgen mehr. Naja, viel Gott im Menschen sehe ich jetzt gerade nicht.
An der nächsten Station versucht eine Mutter sich mit dem Kinderwagen die erhöhten Treppen hoch in das Tram zu hieven. Doch mit wenig Erfolg. Mein indischer Sitznachbar legt schnell das Handy weg und eilt der Frau zur Hilfe. Wir fahren im wirklich überfüllten Tram plus noch einen Kinderwagen weiter und es ist heiss. Mir wird etwas unwohl und übel, deshalb versuche ich gezielt den Boden zu fixieren. Dabei werde ich von einem lauten Quicken in eine andere Faszinationswelt gerissen. Das Baby im Kinderwagen strahlt über das ganze Gesicht, es hat seinen rechten Schuh ausgezogen und präsentiert sein Können mit vollem Stolz den mitfahrenden Gästen. Zuerst beachten eher die weiblichen Personen das Kind und beginnen zu schmunzeln. Als das Kleinkind dann aber mit angestrengten Nebengeräuschen den Socken vom Fuss löst und das bare, kleine Füsschen zum Vorschein kommt, quickt und lacht das Kind so herzerwärmend, dass auch dem professionellsten Banker ein Lächeln über die Lippen huscht. Nun gibt es kein Halten mehr für das Baby. Es schwingt den Socken, wippt mit den kleinen Zehen und klatscht mit den kleinen Händchen gegen den rechten Fuss.
Die Stimmung im Tram ist gelöster und alle gemeinsam erfreuen wir uns an dem Spass des Kindes. Der Opa winkt dem kleinen Charmeur zu und in seinen Gesichtszügen ist nun etwas weiches erkennbar. Die Frau vor mir sagt zu ihrem Mann: «Dass eine einzelne Socke für so viel Spass sorgen kann, herrlich nicht.» Die Mutter des Kindes schaut mit einem zufriedenen Lächeln in die Runde und versucht beim nächsten Halt «Bahnhofstrasse», den aussteigenden Personen Platz zu machen. Die Gäste quetschen sich an ihr vorbei, sie entschuldigt sich leise und wie ein kleines Wunder, erhält sie nicht eine grimmige Antwort, sondern nur nickende, lächelnde Gesten oder gar ein «kein Problem».
Die Frau setzt sich nun neben mich auf den freien Platz. Ich sehe das Kind und sie von der Seite her an und sage: «Auch noch mutig, so in der hektischsten Zeit mit dem Kinderwagen in das überfüllte Tram zu steigen.» Sie schaut mich jedoch gelassen von der Seite her an und meint: «Hmmm, bis jetzt habe ich immer menschliche Reaktionen erhalten.» Ich nicke langsam und beobachte das Baby bis zur nächsten Station, dann verlasse auch ich das Tram. Bevor ich aussteige, drehe ich mich nochmals mit den Worten um: «Frohe Weihnachten». Ich bin schon fast draussen, als ich sie sagen höre: «Gott wird Mensch.» Ich bleibe wie vom Blitz getroffen stehen und schaue dem davonfahrenden Tram nach. Ich getraue mich fast nicht, den Gedanken zu vollenden, so unwirklich und übertrieben ist er. Vielleicht hatte ich gerade mein kleines Weihnachtswunder mit Maria und Jesus gehabt… oder vielleicht auch einfach nur eine überaus christliche Mutter. Wie auch immer, mit einem menschlicheren Gefühl darf ich heute, Gott sei Dank, meinen Tag vollenden. ;-)
Frohe Weihnachten - Eure Isa